Wettbewerbsbeitrag 2014: Die Entscheidung

Ich hatte mich in die herrlich umfangende Stille der malfoyschen Bibliothek zurückgezogen. Der Geruch der alten Folianten erfüllte den Raum wie immer mit dem Geruch uralten Wissens und trotz der allumgebenden Hektik hatte ich angefangen mich zu entspannen. Dies hier war mein Reich.

Jetzt saß ich, umgeben von diversen Schriftrollen und Büchern, an dem großen Mahagonischreibtisch im hinteren Bereich der Bibliothek und machte mir eifrig Notizen. Gemessen an der Menge der hier vorhandenen Literatur, war meine Ausbeute von weniger als zwanzig Texten ziemlich gering, zumal das, was ich suchte, in einigen Werken lediglich am Rand erwähnt wurde. Aber das war nicht anders zu erwarten gewesen.

Ein wenig frustriert schlug ich das letzte Buch zu und legte es zu den anderen um mir meine Notizen noch einmal anzusehen. Viel hatte ich nicht gefunden, aber es würde genügen. Ein Glück, dass die Malfoys ihre Sammlung schon seit so langer Zeit pflegten und sich nicht um die Legalität ihrer Werke scherten.

Aber sollte ich es wirklich tun? Würde ich einmal anfangen gäbe es kein zurück mehr. Würde ich damit leben können? Nun, ein Teil von dir schon, meldete sich eine gehässig ironische Stimme am Rand meines Bewusstseins. „Sehr witzig.“ Murmelte ich halblaut und erschrak beinahe, als mein eigenes Wispern an mein Ohr drang. Na super, jetzt fing ich schon an mit mir selbst zu reden ohne es zu merken.

Wenig damenhaft schnaubte ich und fuhr mir mit den Händen grob über mein müdes Gesicht. Der Zauber selbst war zwar nicht einfach, aber auch nicht besonders schwierig, gemessen an denen, die ich bisher ebenfalls gemeistert hatte. Auch die Vorbereitungen und notwendigen Umstände wären kein Problem, es lag allein an mir.

Ich hatte gesehen, wozu dieser Spruch führen konnte, wenn man nicht stark genug war, der Versuchung zu widerstehen. Und der Preis, den ich zahlen würde, wäre nicht vorhersehbar. Niemand, der den Zauber jemals gesprochen hatte, hatte darüber berichten können oder wollen, wie er sich auf sie persönlich, auf ihr Leben und ihren Tod, auf ihren Köper und ihre Seele ausgewirkt hatte. Man konnte lediglich Schlüsse aus dem ziehen, was man bei diesen Zauberern beobachtete.

Es wäre ein unvorhersehbares Risiko. Ich hasste es, wenn ich die Folgen meines Handelns nicht zumindest halbwegs einschätzen konnte, andererseits war ich bereits aus so mancher präkeren Situation, wenn auch nicht immer unbedingt unbeschadet, so doch gestärkt und klüger hervorgegangen. Ich hatte mein neues Leben sehenden Auges begonnen, hatte damals abgewägt und war zu dem Schluss gekommen, dass es für mich der einzig gangbare Weg war und obwohl ich manchmal die einfachen Zeiten vermisste, würde ich heute nicht mehr tauschen wollen.

Hier aber waren die Umstände anders gelagert. Würde ich den Zauber nicht sprechen, aber brauchen, wäre es zu spät sich anders zu entscheiden, dann wäre für mich alles vorbei. Würde ich den Zauber sprechen, aber nicht brauchen, würde ich vermutlich nie mehr auf der Seite des Lichts, wie es der alte Narr Dumbledore genannt hatte, willkommen sein. Aber war das denn nicht heute bereits so?

Die Öffentlichkeit würde mich verachten, aber es gab kaum etwas, was mir weniger wichtig war. Und meine Familie und Freunde? Würden sie zu mir stehen, oder wäre dieser Spruch der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen würde? Würde ich ohne sie überhaupt weiterleben wollen? Mit mir ganz allein für den Rest meines verstümmelten Lebens? Andererseits hatten mich die Menschen, die mir wirklich wichtig waren, bereits so oft überrascht, vielleicht würden sie auch diesen Teil von mir akzeptieren…

Die letzten beiden Möglichkeiten konnte ich außer Acht lassen. Würde ich ihn sprechen und ihn brauchen, dann würde ich mit den Konsequenzen leben müssen. Ihn weder zu sprechen noch zu brauchen wäre natürlich die wünschenswerteste Option, aber leider hing es nicht allein von mir ab, welche Variante eintraf. Ich hatte nur die Wahl, ihn zu sprechen oder nicht. Ob ich ihn brauchen würde oder nicht, würden die Umstände zeigen.

Ein weiteres Mal fuhr ich mir seufzend mit den Händen durchs Gesicht. Auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, eigentlich gab es auch hier nur eine wirkliche Entscheidung für mich. Dieser Weg mochte mir gefallen oder nicht, aber ich würde ihn gehen müssen um dafür sorgen zu können, dass Harry überlebte. Wie es danach weiterging, würde die Zeit zeigen.

Allerdings wäre ich nicht so dumm, mit allem zu rechnen und alles für den schlimmsten Fall vorzubereiten. Das Schlagen der großen Wanduhr riss mich aus meinen Überlegungen. Ich hatte mich entschieden, das war ein Anfang. Um alles, was daraus folgen könnte, würde ich mich später kümmern müssen, denn jetzt musste ich erst einmal das Abendessen über mich ergehen lassen.

Appetit hatte ich keinen, aber würde ich nicht erscheinen, müsste ich wohl oder übel erklären müssen, weshalb. Schnell ließ ich die gesammelten Texte an ihre Standorte zurückschweben, überflog ein letztes Mal meine Notizen und betrachtete dann schicksalsergeben, wie das von mir in Flammen gesetzte Pergament sich in Rauch und Asche auflöste.

HERMIONES SICHT ENDE

LUCIUS’ SICHT

Hermione kam ein wenig zu spät zum Essen, aber nicht so spät, dass es nach einem Tadel verlangt hätte und ließ sich elegant wie eh und je auf ihrem Stuhl nieder. Nach einer kurzen Begrüßung begannen wir schweigend zu essen, scheinbar war jeder in seinen eigenen Gedanken versunken. Meine Gedanken galten ihr.

Die zarte Haut unter ihren Augen hatte den leichten Grauschleier der Erschöpfung angenommen. Wenn sie sich nicht von selbst eine Ruhepause gönnte, würde ich dafür sorgen. Ich konnte es nicht tolerieren, wenn die Frau des Hauses Malfoy sich derart unpassend in der Öffentlichkeit zeigte.

„Was hast du heute getan Liebes?“ Interessierte es mich doch zu erfahren.
„Gelesen.“ Antwortete sie einsilbig und führte ein weiteres Mal die filigrane Gabel zu ihrem schön geschwungenen Mund. Sie wirkte nicht besonders gesprächig, aber das hätte mich auch überrascht. Überhaupt war keiner von uns wirklich in der Stimmung ein beschwingtes Tischgespräch zu führen.

Die Minuten zogen sich unangenehm, aber als Herr des Hauses musste gerade ich darauf achten, nicht selbst meine Ungeduld erkennen zu lassen. Das Essen näherte sich bereits dem Ende, als Hermione erneut das Wort ergriff.
„Lucius, ich würde heute gerne noch einmal kurz ins Cottage.“ Verkündete sie, die Bitte um Erlaubnis implizierend. Einen Moment lang betrachtete ich sie schweigend.

Eigentlich hatte ich vor, sie nach dem Essen unverzüglich ins Bett zu schicken, aber andererseits würden ihr vielleicht ihre nervenden Freunde auch ein wenig Entspannung bringen und mir selbst würde es ein wenig Zeit zum nachforschen geben. „Ich erwarte dich in spätestens einer Stunde zurück.“ Nickte ich knapp.

Sie verschwendete keine Zeit, erhob und verabschiedete sich angemessen und strebte zur Tür. Noch bevor sich diese wieder geschlossen hatte, spürte ich schon das feine Prickeln der Magie auf meiner Haut, das mir verriet, dass sie aus der Halle appariert war. Sorgsam tupfte ich mir den Mund mit der creméfarbenen Serviette ab und erhob mich ebenfalls.

Wenig später blickte ich mich in der Bibliothek um. Was hatte sie heute studiert, dass sie derart erschöpft gewirkt hatte? Niemand konnte mir vorwerfen, nicht einfallsreich oder vorsorgend zu handeln und so ging ich zielstrebig zu dem ersten der ausladenden Tische und breitete ein Pergament auf dem jahrhunderte alten Holz aus.

Vorsichtig ließ ich ein wenig Tinte auf das Pergament fließen und schwang meinen Zauberstab in kleinen Kreisen und Schleifen, während ich den Zauber sprach. Nichts passierte. Nun gut, dann eben zum nächsten Tisch. Auch dort geschah nichts. Erst am dritten Tisch hatte ich Glück. Wobei es sich genau genommen natürlich nicht um Glück, sondern um vorausschauende und sorgfältige Planung handelte.

Langsam zog sich die Tinte zu einzelnen Linien zusammen, die nach und nach miteinander verschmolzen und sich zu Buchstaben formten. Ich hatte diesen Zauber schon vor vielen Jahren erfunden um dem wortkargen Severus hinterherspionieren zu können. Als Vorbild diente das Durchschlagpapier, das ich von meinen Geschäften in der Muggelwelt kannte.

Allerdings merkten die Beteiligten dabei, dass eine Kopie des Schriftstückes angefertigt wurde. Mein Zauber dagegen war zweigeteilt. Er konnte erst dann aufgespürt werden, wenn beide Bestandteile zusammengeführt wurden und das auch nur, wenn ich anschließend meine Spuren nicht verwischte.

Zuerst wurde eine Schreibunterlage mit der ersten Hälfte des Zaubers belegt, wenn dann jemand die Unterlage benutze, speicherte das Holz die Bewegungen der Feder und wenn man anschließend den zweiten Teil des Zaubers sprach, wurde diese Aufzeichnung wiedergegeben. Natürlich brauchte man dazu etwas, was diese Wiedergabe sichtbar machte  und dazu diente das Pergament und die Tinte.

Die Zeit, die das Pergament brauchte um sich selbst zu beschreiben, nutzte ich um den Zauber von den ersten beiden Tischen zu löschen und sie neu zu präparieren. Das war das einzig Lästige an diesem Spruch. Wenn ich es mit jemandem zu tun hatte, der viele verschiedene Oberflächen als Schreibunterlage nutzte, musste jede einzeln vorbereitet, abgelesen, gesäubert und erneut vorbereitet werden.

Aber in den letzten Jahren hatte ich schon einige interessante Kleinigkeiten durch meine Erfindung erfahren und das war mir den zusätzlichen Aufwand wert. Bereits drei Pergamente waren beschrieben, als ich zu dem Tisch im hinteren Bereich der Bibliothek zurückkam. Neugierig griff ich nach den ersten Seiten und begann zu lesen.

Was ich las verschlug mir den Atem. Hatte Hermione jetzt vollständig den Verstand verloren? Ich schwankte zwischen Wut und Bewunderung, zwischen Angst und Freude, als ich ihre Notizen las. Wusste sie denn nicht, worauf sie sich einließ? Ach was, natürlich wusste sie das! Sie war bereit, das absolut Wichtigste zu opfern um zu überleben.

Sie würde diesen Krieg überleben! Aber zu welchem Preis? Die Gedanken schwirrten in meinem Kopf. Sollte ich sie hierfür eher bestrafen oder belohnen? Verdammt, dieses Weib machte mich verrückt! Jetzt hatte ich es endlich geschafft, sie an mich zu binden und doch wagte sie es, mich bei ihren Plänen zu übergehen.

Knurrend ballte ich die Hände zu Fäusten und achtete nicht darauf, dass ich das Pergament in meinen Fingern zerknüllte. Ich hatte noch eine halbe Stunde Zeit um mein Gemüt zu beruhigen, bevor sie wieder ins Manor kam und diese halbe Stunde, wenn nicht sogar mehr Zeit, würde ich dringend brauchen.

Ich machte einen kleinen Umweg in ihre Gemächer um ihr eine kurze Mitteilung zu hinterlassen, dann zog ich mich in meine eigenen zurück, goss mir ein Glas von Großvaters guten Whiskey ein und wartete.

Wie erwartet erschien Hermione pünktlich. Als sie nach kurzem Klopfen eintrat brauchte sie einen Moment, um mich im Halbdunkeln in meinem Sessel zu erkennen. Sichtbar irritiert über die Stille und Dunkelheit trat sie näher. „Du wolltest mich sprechen Lucius?“ Langsam hob ich den Blick von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in meiner Hand und blickte sie an. „Du willst also einen Horkrux erschaffen?“

LUCIUS’ SICHT ENDE